Pressespiegel

Kaum Chancen am Arbeitsmarkt

(Delmenhorst, Kreisblatt am Sonntag, So, 17.09.2006) Psychiatrie-Erfahrene diskutierten auch Berufsthemen. Die Betroffenen sorgen sich um die Wiedereingliederung. Lothar Grafe referierte über „Ausgrenzung im Arbeitsleben“. Mit großer Sorge sehen psychisch kranke Menschen, die sich zur Integration ins gesellschaftliche Leben in Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen haben, auf die aus ihrer Sicht nach wie vor völlig unzureichenden Möglichkeiten der beruflichen Eingliederung.

So ist auch der 48-jährige kaufmännische Angestellte Lothar Grafe aus Osnabrück, der auf dem Selbsthilfetag der Landesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener Niedersachen (LPEN) im Evangelischen Gemeindezentrum an der Lutherstraße über „Ausgrenzung von Psychiatrie-Erfahrenen im Arbeitsleben“ referierte, inzwischen Frührentner. Nach einer erneuten Probezeitkündigung habe er sich keine Chancen am Arbeitsmarkt mehr ausgerechnet, räumt der agile Selbsthilfe-Mann ein.

Mit Rückgriff auf zentrale Werte des Grundgesetzes führte Grafe zunächst aus, dass allein auf der Grundlage der Verfassung mit dem Schutz der Menschenwürde, des Verbots einer Behindertenbenachteiligung sowie dem Recht der Berufswahl und Berufsausübungsfreiheit prinzipiell auch für psychisch kranke und behinderte Menschen erfreuliche Ausgangsmöglichkeiten bestünden. Leider zeigten genauere Blicke in die einfachen, das Alltagsleben bestimmende Gesetze, dass es in vielen Berufszweigen mit dieser Wahlfreiheit oder gar einer Förderung nicht weit her sei. „In zahlreichen Sozialberufen sind psychisch kranke Menschen von der Ausübung ausdrücklich ausgeschlossen“, teilte Grafe seinen überraschten Zuhörern mit und ließ dazu exemplarisch Landesgesetze zur Altenpflege zirkulieren.

Aber auch in Durchschnittsberufen in Industrie und Handel hätten psychiatrieerfahrene Menschen bei dem heutigen Verdrängungswettbewerb auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance. Häufig reiche bereits das ärztliche Attest eines Facharztes für Psychiatrie, um den Stuhl eines bisher geschätzten Mitarbeiters wackeln zu lassen. Grafe verband diese Erfahrung mit dem Appell, auf Krankschreibungen für neutrale Arztstempel Sorge zu tragen. Zum echten Problem für Psychiatrie-Erfahrene werde die Situation im Vorstellungsgespräch, wenn eine Anstellung tatsächlich winke: „Soll man dann die eigene Erkrankung erwähnen oder sie verschweigen?“

Ohne sich exakt auf eine Empfehlung festzulegen, warb der Referent für eine verstärkte gesellschaftliche Akzeptanz psychisch kranker Menschen, wie sie bei Suchterkrankten, speziell bei trockenen Alkoholikern, bereits bestehe. Schließlich seien medikamentös gut eingestellte psychisch Kranke in der Regel ebenso leistungsfähig wie ihre gesunden Arbeitskollegen. „Wir haben noch eine schlechte Publicity“, wurde dazu in der Diskussion hervorgehoben. Dabei werde verkannt, dass Psychiatrieerfahrung häufig nur einen relativ kurzen Lebensausschnitt bilde. „Es gibt auch erfolgreiche Manager, die schon einmal in der Psychiatrie waren.“

Leider würden sogar Sozialversicherungsträger psychisch kranke Menschen kaum einstellen, und auch der Öffentliche Dienst komme seinen entsprechenden Verpflichtungen kaum nach. Bei vier Millionen Arbeitslosen, so Grafe mit einem deutlichen Schuss Pessimismus, gebe es derzeit kaum ernsthafte Anreize, berufliche Reha-Maßnahmen zu entwickeln, die sich am Leistungsvermögen und dem bisherigen beruflichen Hintergrund der Erkrankten orientierten. Nach der Erfahrung aus vielen niedersächsischen Orten, so das Fazit aus der engagierten Diskussion auf dem Selbsthilfetag, werde bei der Bundesagentur für Arbeit und anderen Sozialversicherern nach dem Prinzip verfahren: „Langzeitarbeitslose sind vor Behinderten zu fördern.“