Pressespiegel

Weggesperrt und fremdbestimmt

(Von Austin Hoysern und Auvdi Strahsen, tendenz) Die Psychiatrie wird meist als medizinische Disziplin zur „Heilung von geistigen gestörten Menschen“ gesehen. Wie sie sich ihre Patientinnen schafft und mit ihnen umgeht ist das Thema dieses Artikels.

Die Psychiatrie, an der wir hier Kritik üben wollen, ist nicht als Institution zu begreifen, wie mensch sie an einem Gebäude oder einer medizinischen Disziplin festmachen kann. Sie ist vielmehr ein breites Netzwerk von Psychiaterinnen und Psychologinnen, von Polizei und Pharmaindustrie, von Normierungen und Kategorisierungen, von Abhängigkeiten und Ruhigstellungen. Ihre Schnittstelle ist das Ideal der „geistigen Gesundheit“.

Pathologisierung

Pathologisierung beschreibt den Prozess, bei dem die Wahrnehmung oder das Verhalten von Menschen als „krankhaft“ gedeutet wird. Dies geschieht meist durch eine medizinische Feststellung, im Zuge derer eine mögliche „Gesundung“ immer gleich mitgedacht ist.

Dies funktioniert nur, da von einer „geistigen Gesundheit“  als Normzustand ausgegangen wird, von der ausgehend sich dann der Grad und die Art der Abweichung bestimmen lässt. Welche konkreten Auswirkungen das auf die pathologisierten Personen hat, zeigt sich schon anhand der Tatsache, dass bis 1992 im von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen ICD (International Classification of Diseases) Homosexualität als „Verhaltensstörung“ gelistet wurde. Betroffene sehen sich einem Stab von medizinisch geschultem Personal gegenüber, die mit Hilfe von Medikamenten und "Therapien" versuchen, das abweichende Verhalten wieder der Norm anzupassen, die Betroffene wieder funktionsfähig zu machen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Menschen psychiatrische Hilfe aufsuchen, wenn sie mit den an sie herangetragenen gesellschaftlichen Erwartungen nicht fertig werden.

Im Zuge der Medizinisierung des Wissens vom und über den Menschen wird Betroffenen die Glaubwürdigkeit entzogen, da jede Äußerung als Teil der „Krankheit“ angesehen und damit zu einer sanktionierbaren Handlung wird. Dies bleibt für die Betroffene selbst nicht folgenlos. Der Mensch wird im Psychiatrieapparat zur Patientin gemacht.

Entzug der Selbstbestimmung

Diese „Erschaffung“ der Patientin legitimiert zugleich die Hierachiesierung der Beziehung zur „Therapeutin“. Da Letztere sich meist aufgrund von größerem medizinischen Wissen als Autorität darstellen kann und über gesteigerte Machtmittel verfügt, entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis. Dieses zementiert darüber hinaus auch den Gegensatz zwischen „kranker Patientin“ und „gesundem Personal“

So entspricht es der Logik der „Heilung“, dass psychiatrisierte Personen in akuten Krisensituationen oder ohne (zumindest mittelfristige) Aussicht auf Gesundung in geschlossenen Psychiatrieabteilungen eingesperrt oder zwangsmedikamentiert werden – eine Situation, in die mensch schon gebracht werden kann, wenn sie sich dazu entscheidet Selbstmord zu begehen und durch Zwangseinweisung wegen Selbstgefährdung (kurzfristig) in der Psychiatrie landet.

Selbstverständlich stellt dies nur die Spitze des Eisbergs dar. Darunter liegen aber viele Ebenen der konsequenten Entziehung der Selbstbestimmung über die Wahrnehmungen sowie das eigene Verhalten. Der psychiatrische Apparat hat es sich (ähnlich wie das Knastsystem) zur Aufgabe gemacht, nonkonformes Verhalten als solches zu kategorisieren und durch „Heilung“ in den „gesunden“ Teil der Gesellschaft wiedereinzugliedern.

Ruhigstellung

Nicht nur die bereits beschriebenen Formen der Ruhigstellung wie Medikamente, Einsperrungen oder der Entzug der Glaubwürdigkeit stellen Angriffe auf die Bedingungen der Möglichkeit eines kritischen Umgangs mit der Umwelt dar. Die pure Existenz von Zwangsinstitutionen sowie weniger offensichtlich zwangausübenden Instanzen strukturiert bereits den Bereich des Denkbaren und setzt dem Bereich des Sagbaren unsichtbare Grenzen. Dabei sind diese Grenzen nicht für alle Menschen auf die selbe Art und Weise abgesteckt. Die soziale Position, die äußere Erscheinung und nicht zuletzt das Geschlecht haben erhebliche Auswirkungen auf den Grenzverlauf. Die als "hysterisch" abgestempelte Frau ist nur eines der Beispiele für die zum Schweigen gebrachte oder unhörbar gemachte Abweichlerin.

Es ist nicht nur der Fall...

...der schmerzt, es ist ebenso die Form des Aufgefangenwerdens. Psychiatriebetroffene, Menschen in akuten Krisensituationen oder mit langfristigen Beschwerden muss Hilfe zukommen, wenn sie welche wollen. Doch genau wie diese Hilfe organisiert wird ist der springende Punkt. Wir müssen es schaffen, Verhältnisse zu unseren Freundinnen, Mitbewohnerinnen, flüchtigen Bekanntschaften aufzubauen, in denen Hilfe ein gegenseitiges, herrschaftsfreies Projekt darstellt, in denen Vertrauen aufgebaut werden kann und nicht zuletzt das Wissen über uns selbst zurückgewonnen werden kann.