Positionspapier
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- Veröffentlicht am Dienstag, 06. Januar 2009 23:17
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Vorbemerkungen
Die Landesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener in Niedersachsen (LPEN e.V.) führte vom 31. Januar bis 02. Februar 1997 in Neetze in der Lüneburger Heide Psychiatrie-Erfahrene (PE) aus ganz Niedersachsen zusammen. So kamen die Teilnehmer aus Göttingen, Hannover, Osnabrück, Braunschweig, Stade, Delmenhorst, Damme, Vögelsen, Buchholz/Aller, Aurich und Lüneburg. Es nahmen insgesamt über 30 PE's an 12 Arbeitsgruppen zu Themen aus dem Bereich Psychiatrie teil. Das Treffen fand ausschließlich unter Psychiatrie-Erfahrenen statt. Professionelle und Angehörige waren nicht anwesend. Insofern geben die Ergebnisse der Arbeitsgruppen die Meinungen, Hoffnungen, Ängste, Wünsche und Bedürfnisse von PE wieder. Die Ergebnisse aus den einzelnen Arbeitsgruppen wurden schriftlich festgehalten und bilden die Grundlage für dieses Positionspapier.
Auf der sechsten Vollversammlung der LPEN e.V. am 08. November 1997 wurde das Positionspapier diskutiert und von der Vollversammlung angenommen. Die zusammengetragenen Ideen haben keinen feststehenden Charakter, sondern sollen ein offenes Papier sein, dass zu Diskussionen und zur Auseinandersetzung anregen soll. Es stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern bedarf der Ergänzung und Überarbeitung.
Osnabrück, den 20. Januar 1998
1. Alternative Psychiatrie – herkömmliche Psychiatrie
Wir stehen alternativen Psychiatriekonzepten prinzipiell positiv gegenüber. Alternativen sehen wir in solchen Projekten wie z.B. den Soterias, den Weglaufhäusern, dem Ansatz von Land in Sicht e.V. und den Krisenwohnungen.
Wünschenswert wäre in unseren Augen auch eine Krisenbegleitung in vertrauter Umgebung wie z.B. der eigenen Wohnung. Erfahrungen mit dieser Form des Umganges von Extremsituationen wurden in den USA (siehe Edward M. Podvoll), aber auch immer wieder von einzelnen Psychiatrie-Erfahrenen in Deutschland (siehe den Artikel von Regina Bellion im „IRRTU(R)M“ und in der „Sozialen Psychiatrie“ u.a.m.) gemacht. Sie gehen davon aus, dass man Krisen auch ohne Ärzte, ohne Psychopharmaka und ohne Klinik mit der Hilfe von vertrauten und in der Begleitung von Psychosen und Depressionen/Manien erfahrenen Personen bewältigen kann. In diesem Zusammenhang stellen wir die Forderung auf, dass Menschen, die andere in depressiven / manischen oder psychotischen Krisen begleiten, für ihre Arbeit bezahlt werden in Anlehnung an die Bezahlung des Personal in psychiatrischen Kliniken.
Zusammenfassend läßt sich sagen, dass wir uns eine Vielzahl von Alternativen wünschen, die mittel- bis langfristig die herkömmliche Psychiatrie ersetzen können. Die heutige Struktur der Unterbringung in Großkrankenhäuser lehnt die LPEN e.V. ab.
Der Psychiatrie stehen wir ablehnend gegenüber. Sie fungiert immer noch häufig als gesellschaftliche Repressionsinstanz und arbeitet mit Zwangsmaßnahmen und Druck. Daraus kann unserer Meinung und unseren eigenen Erfahrungen nach wenig Gesundes erwachsen.
Die herkömmliche Behandlung von psychiatrischen Krankheiten mit Psychopharmaka sieht ein Teil von uns als notwendiges Übel an, ein anderer Teil steht ihr skeptisch gegenüber und wiederum andere lehnen sie rundum ab. Daher werden von uns grundsätzlich herkömmliche psychiatrische Einrichtungen begrüßt, die zumindest die freiwillige Einnahme von Psychopharmaka praktizieren.
Die freie Arztwahl während der Klinikbehandlung ist eine weitere Forderung der LPEN e.V. Dabei wäre die Weiterbehandlung durch den schon ambulant begleitenden Psychiater sicherlich die optimale Regelung.
Außerdem setzen wir uns für die bessere finanzielle Unterstützung der Selbsthilfeinitiativen ein.
2. Macht Psychose Sinn? Worin liegt ihr Sinn?
Bei dem Erfahrungsaustausch unter Psychose-Erfahrenen wurden die unterschiedlichsten Ideen zu diesem Thema geäußert. So sahen manche in ihren Psychosen ein Ausleben nicht erlaubter Verhaltensweisen, andere sahen sie als Reaktion auf eine nicht mehr tragbare Realität, auf eine Verletzung, als eine Flucht, ein Rutschen in die Psychose. Es wurden thematische Inhalte der Psychosen mit der persönlichen Lebensgeschichte in Zusammenhang gebracht und die Psychose wurde immer wieder als Wendepunkt im Leben gesehen, an dem „die Biographie einen Bruch“ erlitt. Psychose wurde auch als „Schrei nach Veränderung“ bezeichnet. Die Befürchtung, dass die Psychose nicht in das eigene Leben integriert werden könne, wurde geäußert.
Als Ursache für die Psychose wurde die Einsamkeit genannt, andere sahen die Ursachen in einer extrem belastenden Lebenssituation kurz vor dem Ausbruch der Psychose. Den Wahnerlebnissen in der Krise wurde eine große Bedeutung beigemessen. Sie hätten einen direkten Bezug zur vorigen Realität, von einer Identität im Wahn, von logischem Wahn, einem Assoziationswahn, dem Gefühl, Menschen durchschauen zu können wurde gesprochen. Dabei sind wir immer wieder darauf gestoßen, dass die Wahnbildern einen Sinn haben. Unserer Meinung nach kann eine Psychose nur dann verarbeitet werden, wenn mit oder ohne professionelle Hilfe eine Aufarbeitung dieser Wahninhalte stattfindet.
Gefordert wurde Raum, um die Psychose ausleben zu können, zum Schreien, Malen oder sich Zurückziehen.
Beklagt wurde die immer noch verbreitete Ansicht, dass es sich dabei um eine Stoffwechselkrankheit handele und Ärzte die Ver-Rückt-Heit auf diesen Punkt reduzieren würden. Dabei fielen immer wieder biographische Zusammenhänge unter den Tisch.
Als Konsequenz wurde das Erlernen der Erkennung von Frühwarnzeichen für wichtig gehalten. Therapeutische Hilfe in Verbindung mit der maßvollen Einnahme von Psychopharmaka und der möglichst schnellen Reduktion bis zur Absetzung der Mittel sahen einzelne als gangbaren Weg aus der Krise. Weiter ging die Forderung, auf den Gebrauch von Psychopharmaka ganz zu verzichten und statt ihrer Beruhigungsmittel bzw. Schlafmittel zu verwenden. Eine alleinigen Behandlung mit Neuroleptika führe zwangsläufig in eine Dauermedikation und nicht aus der Krise heraus.
3. Wie kann der ideale Arbeitsplatz aus der Sicht von Psychiatrie-Erfahrenen aussehen?
Bei der Diskussion über dieses Thema wurden u.a.
ein gutes Betriebsklima,
flexible Arbeitszeiten,
eine Bezugsperson beim Arbeitgeber und außerhalb,
eine abwechslungsreiche Tätigkeit,
die Möglichkeit zur Fortbildung,
die Absicherung des Arbeitsplatzes bei kurzfristiger und längerfristiger Krankheit,
die Möglichkeit der schrittweisen Wiedereingliederung langfristiger Unterbrechung durch Krankheit und
die Aufklärung über die Arbeitsrechte genannt.
Daher befürwortet die LPEN e.V. die Schaffung von betroffenengerechten Arbeitsplätzen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Der Arbeitsplatz muß die Möglichkeit zur Kreativität und einen eigenen Verantwortungsbereich bieten. Wichtig sind Elemente der Teamarbeit im Wechsel mit Elementen der Eigenarbeit. Dabei wäre eine offene Arbeitszeit, d.h. die Möglichkeit der vollkommen freien Einteilung seiner Arbeitszeiten, sehr wichtig. Außerdem müsst die schrittweise Einarbeitung nach einer Krise ermöglicht werden.
Die LPEN e.V. kritisiert dagegen die Arbeitsbedingungen für psychisch Kranke in Behindertenwerkstätten. Die geringe Entlohnung entspricht nicht der geleisteten Arbeit. Außerdem haben Psychiatrie-Erfahrene nach einer Beschäftigung in einer Behindertenwerkstatt kaum Chancen, wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Tritt zu fassen.
Nach einer Krise oder längerer Arbeitsunfähigkeit ist die schrittweise Wiedereingliederung in das Arbeitsleben zu vollziehen. Alle Beschäftigungsangebote sollen die Möglichkeit einer beruflichen Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt offenlassen statt einen Behindertenstatus unwiderruflich festzuschreiben.
4. Wie sieht die gesellschaftliche Stellung von Psychiatrie-Erfahrenen aus? Wie sollte/könnte diese Stellung aussehen?
In der Gesellschaft haben psychisch kranke Menschen eine untergeordnete Stellung. Sie sind nicht mit psychisch gesunden Menschen gleichberechtigt. Psychisch krank zu sein gilt allgemein als schlimm, das Thema ist tabu und anrüchig. Psychiatrie-Erfahrene leiden unter Vorurteilen, die ihre Ursachen in den Ängsten der Bevölkerung vor den „Verrückten“ haben. Unter anderem besteht auch das Vorurteil, psychisch Kranke seien kriminell. Dabei ist die Anzahl der kriminellen Handlungen bei den Psychiatrie-Erfahrenen genauso hoch bzw. niedrig wie bei den psychisch gesunden Menschen. Die LPEN e.V. beklagt, dass besonders auf dem Dorf Psychiatrie-Erfahrene schnell abgewertet werden. Auch Familienbande und Freundschaften überbrücken manchmal nicht die Krankheit. Die Ängste vor Psychiatrie-Erfahrenen werden auch deutlich an der Existenz von Bürgerinitiativen gegen die Einrichtungen von Kontaktstellen, Wohnheimen und Kliniken für Psychiatrie-Erfahrene. Die Gesellschaft hat eine falsche Vorstellung von Psychiatrie und psychischer Krankheit. Mit psychischer Krankheit ist das Vorurteil verknüpft, dass die Betroffenen hilfsbedürftig und unfähig zur Übernahme von Verantwortung sind. Die Beurteilung dazu ist oft pauschal und undifferenziert, sie kommt einer Verurteilung gleich. Die gesellschaftliche Abwertung der psychisch kranken Menschen beginnt schon im Kindermund: „Der spinnt ja“ oder „Der ist verrückt“ oder „Der ist reif für die Klappse“. Der Erwachsene sagt dann: „Das ist ja schizophren“. Psychisch Kranke werden ähnlich angesehen wie Bettler und Obdachlose. Sie gelten als Drückeberger und realitätsflüchtig. Sie werden in eine Reihe gestellt mit den so genannten „bekloppten Taugenichtsen“.
Die LPEN e.V. wünscht sich eine Korrektur dieses würdelosen Bildes vom Psychiatrie-Erfahrenen. Dabei könnte die Aufklärung über psychische Erkrankungen schon in der Schule hilfreich sein und zum Abbau von Vorurteilen beitragen. Wir wünschen uns, dass Kontakte zu gesunden Menschen von der Gesellschaft gefördert und gewollt werden. Der Kontakt mit gesunden Menschen ist wichtig. Ermutigt dazu werden wir, weil einzelne von uns bei der Offenbarung ihrer Krankheit keine Ablehnung erfuhren, sondern in ihrer Würde bestätigt wurden. Wir wünschen uns einen normalen Stellenwert in der Gesellschaft und die „Akzeptanz der Normalität in der Verrücktheit“.
Wir wollen das Bild des „Verrückten“ in der Öffentlichkeit ändern. Dazu halten wir folgende Mittel für sinnvoll :
Leserbriefe in örtlichen und überörtlichen Printmedien
Veranstaltungen, Tagungen, Theater
Informationsstände z.B. beim „Tag der Niedersachsen“
Demonstrationen
Selbsthilfegruppenarbeit
eigene Veröffentlichungen
Bücher, Broschüren, Handzettel
Plakate
das persönliche „Sich-outen“ im Freundes- und Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz
das persönliche Gespräch
Wir fordern, dass die Öffentlichkeit über Entstehung und Ursachen sowie Formen von psychischen Erkrankungen aufgeklärt wird und somit ein gesellschaftliches Klima des Verständnisses, des Angenommenwerdens und der Normalität entstehen kann. Psychiatrische Krankheitsbilder sind nicht als persönliches Defizit oder gar als Schwäche anzusehen, sondern vielmehr als Reaktion auf umweltbezogene oder erziehungsbedingte Defizite wahrzunehmen.
5. Rechtliche Belange in der Psychiatrie
Die LPEN e.V. klagt die Psychiatrie als häufig rechtsfreien Raum an. So ist es z.B. eine hinlänglich bekannte Tatsache, dass bei Zwangsfixierungen die im PsychKG vorgeschriebene Sitzwache vielfach vollkommen fehlt bzw. nur zeitweise anwesend ist. Auch der Ablauf einer Krankenhausaufnahme und das Verfahren der Bestellung einer Zwangsbetreuung ist oft für Psychiatrie-Erfahrene menschlich entwürdigend und rechtlich zweifelhaft.
Wir fordern daher einen Patientenanwalt, der sowohl über eine rechtliche als auch über eine psychiatrische Fachausbildung verfügt. Wir setzen uns dafür ein, dass eine Liste mit Namen von in psychiatrischen Fachfragen qualifizierten Rechtsanwälten in Niedersachsen erstellt und auf Anfrage von uns zur Verfügung gestellt wird. Daneben wollen wir Psychiatrie-Erfahrenen in rechtlichen Fragen Hilfestellung bieten.
Neuesten Entwicklungen wie der „Behandlungsvereinbarung“ und dem „Psychiatrischen Testament“ stehen wir aufgeschlossen gegenüber. Sie helfen Psychiatrie-Erfahrenen, ihre Situation zu reflektieren und für den erneuten Krisenfall rechtlich klar zu fixieren. Daneben raten wir, eine Betreuungsverfügung vor dem Krisenfall abzuschließen, d.h. für den Fall einer gerichtlich angeh-setzten Bestellung eines Betreuers schon einer Person seiner Wahl bestimmt zu haben, die dann auch vom Gericht eingesetzt werden muß.
Die LPEN e.V. fordert weiterhin die Einsetzung von Vertrauenspersonen für Patienten in den psychiatrischen Kliniken. Diese Personen sollten von unabhängigen Stellen bezahlt werden, um sich im Streitfall für den Patienten einsetzen zu können. Auch die Einrichtung von Beschwerdestellen in den psychiatrischen Kliniken wird von der LPEN e.V. gefordert. Ihre Stellung müsste ebenfalls unabhängig sein. Diese Beschwerdestellen sollten eng mit den Besuchskommissionen im Land Niedersachsen zusammenarbeiten und auf Mißstände aus der Sicht der Patienten hinweisen.
Einen weiteren Anspruch erhebt die LPEN e.V. darauf, dass Patienten bei der Aufnahme in die Klinik über die eingesetzten Medikamente schriftlich und eingehend informiert werden. Außerdem darf die Vergabe von Medikamenten nicht an die Unterschrift unter die Freiwilligkeitserklärung bei der Aufnahme in die Klinik gebunden werden.
6. Eine psychiatrische Utopie
Wir wünschen uns einen Wald, eine Wiese und einen See und viel persönlichen Entfaltungsraum für jeden.
Auf der Wiese steht ein Haus für 6 bis 8 Bewohner und Begleiter. Dieses Haus sehen wir als einen Schutzraum, den wir in Krisen aufsuchen können. Jeder Bewohner hat ein eigenes Zimmer, dass er nach seinen Bedürfnissen mit persönlichen Sachen einrichten kann. Das Haus steht nicht außerhalb der Stadt, sondern mitten in einer Siedlung. Wir haben guten Kontakt zu den Nachbarn.
Wir kommen freiwillig in diesen Ort und gehen, wenn wir uns stark genug fühlen. Ein Aufenthalt wird von uns nicht als Entmündigung bzw. Entwürdigung empfunden, sondern hilft uns in einer schweren Lebensphase. Haus- und Gartenarbeit werden von uns selbst verrichtet.
Um unsere Psychosen auszuleben, bietet das Haus viele Möglichkeiten. Die Begleiter haben die Bereitschaft, sich mit den Inhalten unserer Psychosen auseinandersetzen. Dafür sind sie speziell als Psychose-Begleiter geschult worden. Sie nehmen unsere Ängste ernst. Sie beraten uns über Medikamente, lassen uns aber die Entscheidung, ob wir Medikamente nehmen wollen oder nicht.
Wir haben einen großen Raum, in dem wir schreien, tanzen, malen, Musik hören, boxen, uns zurückziehen, allein sein können. Außerdem soll im Haus neben den herkömmlichen Therapien Platz sein für andere Therapieformen. Beziehungen, Liebe und Sexualität sind im Haus erlaubt und nicht ausgeschlossen. Es gibt keine (zwangsweise) verschlossenen (geschlossenen) Türen und keine Fixierungen. Auch andere Zwangsmaßnahmen wie Kontaktsperre oder Telefonsperre gibt es nicht.
Wir wollen ohne Druck zusammenleben. Konflikte sollen nicht durch Macht, sondern durch gleichberechtigte Auseinandersetzungen gelöst werden.
7. Die Gleichbehandlung mit körperlich Kranken
Die LPEN e.V. fordert die Gleichbehandlung Psychiatrie-Erfahrener mit körperlich Kranken. Dies sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sind, ist es aber im Alltag bei weitem nicht.
Die Diskriminierung beginnt bei der freien Arzt- bzw. Therapeutenwahl. Die wenigsten therapeutischen Methoden können über die Krankenkassen abgerechnet werden, so dass es für den einzelnen Psychiatrie-Erfahrenen notwendig werden kann, die Therapie aus eigenen Mitteln zu bezahlen. Dies ist häufig von Arbeitslosengeld, Sozialhilfe oder einer geringen Rente nicht möglich. In der Konsequenz bedeutet das oft keine Therapie.
Auch Leistungen aus der Pflegeversicherung sind für Psychiatrie-Erfahrene schwer zu bekommen. Die Pflegeversicherungen haben sich mit dem Thema häusliche, psychiatrische Krankenpflege bisher kaum beschäftigt und gewähren unserer Ansicht nach für diesen Bereich viel zu wenige Mittel, um Psychiatrie-Erfahrenen in Krisen eine minimale häusliche Versorgung zu gewährleisten.
Die LPEN e.V. fordert öffentliche Gelder für die Erforschung von Psychosen. Leider fließt das meiste Geld in diesem Bereich in die Entwicklung von Medikamenten. Für eine Änderung dieser Praxis setzt sich die LPEN e.V. ein. Dabei sollte der Schwerpunkt der Vergabe von Forschungsmitteln auf der Entwicklung von Therapien, die ein subjektorientiertes Krankheitsverständnis zur Grundlage haben, gelegt werden.
8. Frauenspezifische Psychiatrie – unsere Sicht
Wir Frauen der LPEN e.V. sind der Meinung, dass in den gehobenen Positionen der Psychiatrien überwiegend Männer arbeiten. Wir fordern die Beschäftigung von mehr Frauen in diesen Positionen.
Auch die Einführung von frauenspezifischen Angeboten (in Form von Gruppen) in den Psychiatrien ist dringend notwendig. Gerade für Frauen mit sexueller Gewalterfahrung muß die Möglichkeit bestehen, von einer Frau während ihrer Therapie begleitet zu werden. Gesprächsgruppen, die speziell Frauen vorbehalten bleiben, bieten unserer Meinung nach den Schutzraum, der notwendig ist, um sexuell missbrauchte und/oder in der Ehe misshandelten Frauen zu helfen.
Die Fortbildung des Personals in den Psychiatrien muß eben anderen Thematiken auch zu folgenden Themen vorgeschrieben sein: sexuelle Gewalterfahrungen, Misshandlungen durch Ehemänner und Beziehungspartner, sexueller Missbrauch, Prostitution u.a.
Das psychiatrische Personal muß sensibilisiert werden für sexuelle Übergriffe in den Psychiatrien, um in den entsprechenden Fällen einschreiten zu können.
Auf den psychiatrischen Stationen muß es Frauenschutzräume geben. Außerdem halten wir die Einführung von Sonderwachen für Frauen, die sich während ihres Psychiatrieaufenthaltes von (sexueller) Gewalt bedroht fühlen, für geboten. Geschlossene Stationen sollten über abschließbare Frauentoiletten verfügen. Im ambulanten Bereich regt die LPEN e.V. das Angebot bzw. die Vermittlung von Selbstverteidigungskursen durch die Sozialpsychiatrischen Dienste an. Für ausländische Frauen wäre es wichtig, dass auch Frauen mit Fremdsprachenkenntnissen in den Psychiatrien arbeiten würden. Für uns Frauen ist es wichtig, dass es spezielle Stationen für Menschen gibt, die Gewaltverbrechen an Frauen begangen haben. Auf keinen Fall dürfen sie auf den selben Stationen wie die Opfer solcher Gewalttaten behandelt werden. Wir Frauen sind gegen die Einstufung von homosexuellen Partnerschaften als krankhaft oder defizitär. Homosexualität muß gleichberechtigt neben anderen Lebensformen stehen.
9. Psychiatrie-Erfahrene und Familie
Es gibt nicht die ideale Elternschaft, die aufgrund von messbaren Eigenschaften ein optimales Elternhaus bieten und von vornherein ein gesundes und erfülltes Leben der Kinder auch von Psychiatrie-Erfahrenen garantieren kann.
Leben bedeutet Gesundheit und Krankheit. Jeder Mensch hat ein Recht auf beides. Krankheit im Keim zu unterdrücken bedeutet unserer Meinung nach die Angst vor dem Leben. Es bleibt ein Naturgesetz, dass es sowohl das Eine als auch der Andere gibt. Psychotisch kann jeder werden.
Einem Kinderwunsch von Psychiatrie-Erfahrenen stimmt die LPEN e.V. uneingeschränkt zu. Wir fordern aber verbesserte Bedingungen für die Familien. Den finanziellen Nöten von Psychiatrie-Erfahrenen muß mit besseren Arbeitsplätzen entgegengewirkt werden. Notwendig ist eine Verlängerung des Anspruches auf Krankengeld über den gesamten Zeitraum der Krankheitsphasen. Außerdem fordern wir die Zahlung von Überbrückungsgeld bis zur vollständigen beruflichen Rehabilitation von Psychiatrie-Erfahrenen.
Die LPEN e.V. hofft darauf, dass Kinder von Psychiatrie-Erfahrenen, die psychotisch werden, in einigen Jahren ein besseres psychiatrisches Angebot finden werden. Dafür setzen wir uns ein. Dazu gehört auch die ausnahmslose Abschaffung von Zwangssterilisationen. Psychotiker sind keine Menschen mit unwertem Leben. Den Beweis, dass Psychosen vererbbar sind, ist die Wissenschaft bis heute schuldig geblieben.
Vater- und Mutterschaft findet ihren Ausdruck in ganz individuellen Wünschen, Fähigkeiten, Lebenserfahrungen und Erwartungen. Psychotiker als Mütter und Väter reduzieren sich nicht ausschließlich auf ihre Psychosen.
Die Psychose eines jeden Betroffenen ist ein Teil, ein Abschnitt, ein Zeitraum. Es sollte ein ausreichendes Therapie- und Beratungsangebot für Psychose-Erfahrene geschaffen werden, um den Wunsch nach Elternschaft zu unterstützen. Eine der Wald-Baum-See-Methode angegliederte Kindesbetreuung bei akuten Psychosen mit zeitlich geringer Trennung von Eltern und Kindern ist sinnvoll und wünschenswert. Sie wirkt damit dem drohenden Sorgerechtsentzug entgegen.
Ist ein Elternteil psychisch krank und kommt es dadurch zur Trennung, ist ein liebevolles und menschliches Sorgerechtsverfahren zur Voraussetzung zu machen. Die LPEN e.V. klagt an, dass es bei Gerichtsprozessen für Psychiatrie-Erfahrene ungleich schwerer ist, ein gerechtes Urteil gerade in Sorgerechtsverfahren zu bekommen. Wir fordern die gesetzliche Einführung eines Beistands für Psychiatrie-Erfahrene in Gerichtsprozessen und speziell auch in Sorgerechtsverfahren.
Die LPEN e.V. fordert eine maßvollere Gabe von Medikamenten während der Schwangerschaft. Dies bedeutet eine unbeeinflusst Schwangerschaft und einen gesundes Wachstum für das ungeborene Leben. Bauchfixierungen bei schwangeren Frauen sind zu unterlassen.
Die Sorge von Psychiatrie-Erfahrenen, dass ihre Kinder das gleiche erfahren könnten wir sie selbst, ist groß. Wir wünschen uns unterstützende, einfühlsame und liebevolle Entlastung bei dieser Sorge. Die Nähe, Liebe und uneingeschränkte Zuwendung zwischen Eltern und Kindern bleibt ein Recht für alle Menschen.
10. Psychopharmaka – Segen oder Geißel
Die LPEN e.V. steht der Verabreichung von Psychopharmaka kritisch gegenüber. Es muß die provokative Frage erlaubt sein, ob diese Medikamente nicht häufiger den Mitarbeitern der Psychiatrien helfen als den Psychiatrie-Erfahrenen selber. Dies insofern, als ein ruhig gestellter Patient ein besser zu führender Patient ist als ein Patient in der Psychose mit all seiner Unruhe, sei-nen Ängsten, einen verrückten Ideen, Gedanken und Taten.
Der LPEN e.V. ist aber auch bewusst, dass die Gabe bzw. Einnahme von Psychopharmaka extreme Ängste, die so manchen, weil sie nicht mehr auszuhalten waren, in den Selbstmord getrieben haben, lösen können. Sie stellen also im Einzelfall eine Hilfe dar. Allerdings sind nicht alle Psychosen angstbesetzt. Daher stellt sich die Frage, warum Psychiatrie-Erfahrenen, die nicht unter den Inhalten ihrer Psychosen leiden, Psychopharmaka gegeben werden.
In diesem Zusammenhang weißt die LPEN e.V. aber auch darauf hin, dass es in Bezug auf das Auftreten, die Häufigkeit, die Behandlung von Spätdyskinesien und den Zusammenhang mit der Einnahme von Psychopharmaka zu wenig Wissen gibt. Es drängt sich dabei der Eindruck auf, dass von Seiten der Pharmaindustrie und der Ärzteschaft die Gefahr von Spätdyskinesien verharmlost wird. Diese unwillkürliche Bewegungen sind bis heute unheilbar und stellen für die Betroffenen eine starke Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität dar.
Daher fordert die LPEN e.V. den Gesetzgeber auf:
die Einnahme von Psychopharmaka unter das Freiwilligkeitsgebot zu stellen
die schriftliche Aufklärungspflicht bei jeglicher Gabe von Psychopharmaka einzuführen
die Pharmaindustrie dazu zu verpflichten, einen Entschädigungsfond für unter Spätfolgen der psychiatrischen bzw. medikamentöser Behandlung Leidende einzurichten
die Befreiung von der Zuzahlung für Psychopharmaka bei anerkannter, chronischer bzw. längerfristiger psychischer Erkrankung festzuschreiben
11. Psychiatrie-Erfahrene und therapeutische Erfahrungen und Forderungen
Zunächst ist es wichtig, festzuhalten, dass Therapie für viele Psychose-Erfahrene sehr wichtig ist, um den Ursachen der Psychose auf den Grund zu gehen. Bestrebungen, wie im ersten Entwurf des vorgesehenen Psychotherapiegesetzes, Psychosen generell nicht mehr zu therapieren, muß daher mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden.
Die Initiative zur Therapie muß in jedem Falle vom Psychose-Erfahrenen selbst ausgehen. Jegliche Form der Ausübung von Zwang halten wir für schädlich. Psychose-Erfahrene müssen die Grenzen dessen bestimmen, was in der Therapie geschieht. Therapeut/innen müssen ihnen dabei behilflich sein, z. B durch Rückfragen, ob der /die Betroffene das Besprochene noch aushält, um zu verhindern, dass Rückfälle in die Psychose passieren. Sie sollen ihre Klienten für die eigenen Grenzen sensibilisieren.
Notwendige Eigenschaften des/der Therapeuten/in sollen Einfühlungsvermögen und der Bereitschaft zum Zuhören sein. Zentrales Thema der Therapie ist, verstehen zu lernen, was warum in der Psychose geschehen ist, und die Inhalte der Psychose produktiv umsetzen zu lernen. Daher muß es in der Therapie auch vor allem um Psychoseinhalte gehen.
Wir halten kreative Verfahren zur Aufarbeitung von Psychosen für einen guten Ansatz. So ist es z.B. wichtig, auch Bilder in der Therapie malen zu können, und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Von außerordentlicher Bedeutung ist vor allem auch eine optimistische Grundhaltung des/der Therapeutin. Er /Sie sollte Mut machen, die Psychose auch überwinden zu können. Äußerungen wie „Sie werden Ihr Leben lang mit Psychosen und Psychiatrien zu tun haben“ sind sehr kontraproduktiv und destabilisierend.
Bedeutsam finden wir auch, Zusammenhänge zur Kindheit herzustellen. Vorsichtig aufdeckende Therapien sind daher aus unserer Sicht für Psychose-Erfahrene geeignet.
Auch verhaltenstherapeutische Ansätze halten wir bei Menschen mit psychotischen Erlebnissen, denen eine Reflexion ihrer eigenen Situation nicht möglich ist oder die aufgrund ihres verbalen Ausdrucksvermögens zu anderen Therapien keinen Zugang finden, für eine wichtige Hilfe.
Gruppentherapie muß sich ebenfalls mit Psychoseinhalten auseinandersetzen. Wir machen in Selbsthilfegruppen positive Erfahrungen mit der Auseinandersetzung mit Psychoseinhalten und auch mit der Psychiatrieerfahrung, die sich in vielen Fällen negativ, wenn nicht sogar (erneut) traumatisierend auswirkt.
Therapeut/innen Psychoseerfahrener müssen daher eine große Offenheit für Kritik an der Psychiatrie und Bereitschaft zur Beschäftigung mit den in ihr erfolgten Verletzungen mitbringen.
Die Vorauswahl der Therapeut/innen ist sehr wichtig. Daher ist es für Psychose-Erfahrene von großer Bedeutung, viele Vorgespräche führen zu können, und sich den/die Therapeut/in gut aussuchen zu können.
Einer in welcher Form auch immer stattfindenden therapeutischen Auseinandersetzung mit der Psychose sollte eine längere stabile Phase vorausgehen. Mit dem zeitlichen Abstand ist eine Aufarbeitung die Voraussetzung der Heilung.
Abschließend läßt sich sagen, dass Therapien sich positiv auf Psychose-Erfahrene auswirken können, wenn sie sich an oben beschriebenen Bedürfnissen orientieren und nicht durch übermäßige Gabe von Neuroleptika verunmöglicht werden.
12. Psychiatrie-Erfahrene und Liebe und Sexualität
Liebe und Sexualität auch von Betroffenen beginnt schon in frühester Kindheit. Wir wachsen auf und lernen, ob wir uns berühren dürfen oder nicht. Wir erleben Hautkontakt mit unseren Eltern und Geschwistern - manche mehr, manche weniger.
Wir durchlaufen verschiedene Phasen, die orale (wir nehmen alles in den Mund, „beschmecken“ unsere Umwelt und machen uns so mit ihr vertraut), die anale (wir haben das erste Mal mit bewusster Willensentscheidung zu tun; in diesem Falle geht es um die Darmentleerung oder nicht - Sauberkeitserziehung -) und andere, die uns später helfen, uns in unserer Umgebung und Umwelt einmal alleine zurecht zu finden. Zu Anfang sind wir stark abhängig von dem, was unsere Eltern und unsere Umwelt uns bieten und wie sie mit uns umgehen. Es prägt auch unsere sexuelle Entwicklung.
Habe ich Angst zu masturbieren; habe ich genug Selbstvertrauen, meine eigene Sexualität kennenzulernen und mit meinen Bedürfnissen auf einen anderen Menschen zu zugehen?
Das Vorbildverhalten der Eltern im Umgang miteinander ist jahrelanger Grundstein für das Liebesleben und die Sexualität von Menschen. Um eine gleichberechtigte Liebesbeziehung führen zu können, muß ich in der Lage sein, mich als eigenständigen Menschen mit eigenen Wünschen, Interessen und Bedürfnissen wahrzunehmen, meinen Gegenüber gleichsam zu erkennen und wahrzunehmen. So kann ich bewusst Nähe und Distanz erleben. Es entstehen keine Symbiosen und starke Gefühle sind möglich. Voraussetzung ist auch die Fähigkeit, sich zu behaupten, in Konflikten sich nicht aufzugeben und den offenen Streit auszutragen.
Gerade sexuelle Liebesbindungen sind ein Standbein menschlichen Daseins. Werden diese elementare Eckpfeiler des Menschseins erschüttert, kann dies Psychosen auslösen. Somit kann auch ein sexuelles Erlebnis ein Auslöser für den Weg in die Psychose sein. Glaubensgrundsätze und Schuldgefühle können z.B. nach einem „verbotenen One-Night-Stand“ zu Lebenskrisen führen. Große Zeiten von Beziehungslosigkeiten sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter sind Auslöser für psychische Probleme.
Das sexuelle Leben unter Psychopharmaka ist eingeschränkt. Manche Psychopharmaka machen in bestimmten Dosen impotent, Lustgefühle kommen nicht auf oder werden sogar unterdrückt. So kann das Medikament Melleril den Samenerguss hemmen.
In der Psychiatrie werden Beziehungen häufig lediglich geduldet. Gelebte Sexualität ist schwer möglich und wird oft bei Bekanntwerden bestraft. Sexualität als Grundrecht eines jeden Menschen wird in der Psychiatrie beschnitten. Die LPEN e.V. klagt diesen Missstand auf das Schärfste an. Wir fordern Rückzugsmöglichkeiten für Paare in den Psychiatrien. Die Themen Sexualität und Liebe sind umfassend und individuell und das gemeinsame Gespräch darüber wichtig.
Da wo Beziehungen bestehen, müssen Grenzen gesetzt werden. Wo Grenzen sind, entsteht Reibung. Wo Reibung entsteht, entsteht Wärme und wo Wärme ist, kann Liebe wachsen und Sexualität darf gelebt werden.